Die Expertengruppe GIEI hat am 28. März ihren dritten Bericht über den Fall von 43 verschwundenen Studenten in Mexiko veröffentlicht. Demnach tragen Marine und Armeeführung eine große Mitverantwortung. Gemeinsam mit der Generalstaatsanwaltschaft haben sie einen mutmaßlichen Tatort manipuliert, um eine vermeintlich „historische Wahrheit“ zu untermauern.
Text und Foto: Wolf-Dieter Vogel
43 verschwundene Studenten, sechs Tote und viele Fragezeichen – vor siebeneinhalb Jahren, am 26. September 2014, wurde in der Stadt Iguala im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero eine Gruppe von Lehramtsanwärtern von Polizisten und Kriminellen verschleppt. Bis heute ist jedoch unklar, was mit den jungen Männern passiert ist. Die zur Untersuchung des Falls eingesetzte Unabhängige Interdisziplinäre Expertenkommission (GIEI) hat nun erneut umfangreiches Material – Videos und Dokumente – untersucht und am 28. März ihren 3. Bericht vorgestellt. Auf 238 Seiten legen die Expertinnen und Experten dar, wie die Armee, die Marine, die Bundespolizei, Ermittlungsbehörden und der Geheimdienst daran gearbeitet haben, den Hintergrund des Falls zu vertuschen.
Die neuen Informationen basieren auf Dokumente des Innen- und des Verteidigungsministeriums, der Marine sowie der Nationalgarde. Insbesondere das Militär hatte sich jahrelang geweigert, in die Ermittlungen einbezogen zu werden und betont, es habe nichts mit dem Vorfall zu tun gehabt. Selbst nach dem Druck des neuen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, der die Aufklärung des Falls zur Chefsache erklärt hatte, sollte es noch zwei Jahre dauern bis die Armee ihre Informationen 2021 freigab.
Demnach wurden die Studenten des als linksradikal eingeschätzten Lehrerseminars Ayotzinapa wegen ihrer politischen Haltung seit Langem von den Sicherheitsbehörden überwacht. Das Militär habe die Männer vor, während und nach dem Angriff genau im Blick gehabt, sagte kolumbianische Staatsanwältin Ángela Buitrago von der GIEI. Der Kommission lägen 57 Berichte der Zeit von 2011 bis 2014 vor, in denen der Geheimdienst und das Verteidigungsministerium Aktivitäten der Studenten festgehalten hätten. Die Armee habe zwei Spitzel in das Internat eingeschleust. Einer von ihnen befand sich unter den Männern, die am 26. September 2014 verschwunden sind.
Folglich wusste das Militär auch nach der Verschleppung, wo sich die Studenten befanden. Die GIEI hat 20 Nachrichten aus der Nacht gefunden, in denen über den „Kontext und den Verbleib“ der Männer kommuniziert wurde. Diese Informationen wurden jedoch nicht an zivile Behörden weitergegeben. Parallel hätten Ermittlungsbehörden mit den Entführern über die Freilassung eines Teils der Studenten verhandelt. Sprich: Hätte es ein Interesse der Sicherheitskräfte gegeben, die Verschwundenen zu retten, wäre das möglich gewesen. „Die Armee hat ein schmutziges Spiel gespielt“, resümierte Anwalt Vidulfo Rosales vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan, der die Angehörigen der Verschwundenen vertritt.
Die Lehramtsanwärter hatten an jenem Herbsttag mehrere Busse gekapert, um damit zu einer Demonstration in Mexiko-Stadt zu fahren. Sie wurden jedoch in Iguala von Polizisten gewaltsam gestoppt und der Mafiaorganisation „Guerreros Unidos“ übergeben. Sechs Menschen starben bei dem Angriff, von den Verschwundenen fehlt seither fast jede Spur. Dennoch erklärte der damalige Generalstaatsanwalt Jesus Murillo Karam den Fall nach wenigen Monaten für aufgeklärt. Die Studenten seien auf einer Müllhalde verbrannt worden. Das sei die „historische Wahrheit“.
Drohnenaufnahmen, die die GIEI erst auf massives Drängen und mit Hilfe Lopez Obradors bekommen hatte, zeigen jedoch, dass Marinesoldaten und die Generalstaatsanwaltschaft diesen vermeintlichen Tatort manipuliert und damit Ermittlungen gezielt in die falsche Richtung gelenkt hatten. Murillo Karam sowie Marinesoldaten waren auf dem Müllplatz, bevor dieser als Tatort deklariert wurde. Während dieses Aufenthalts, der nicht offiziell dokumentiert wurde, trugen Beamte Behälter über den Platz und entzündeten ein Feuer. Der Verdacht, dass die Halde fälschlicherweise als Tatort inszeniert werden sollte, um die „historische Wahrheit“ festzuschreiben, besteht schon lange. So gab es nie Hinweise darauf, dass es dort ein Feuer in einer Größe gegeben hatte, die für das Verbrennen von 43 Menschen nötig gewesen wäre. Auch gegenüber dem Autor bestätigten Zeuginnen und Zeugen, die in Dörfern oberhalb des Müllplatzes leben, dass sie in der Nacht kein Feuer gesehen hätten.
Die Behörden hätten den Fall auf ein lokales Problem reduzieren wollen, erklärt das GIEI-Mitglied Francisco Cox. Weitere Ermittlungen sollten durch die fälschliche Festlegung auf eine „historische Wahrheit“ verhindert werden. Das Verbrechen war nach Einschätzung der Kommission „ohne die Führung einer hochrangigen Behörde nicht möglich gewesen“. Dazu passt, dass das Militär nicht eingeschritten ist, obwohl sie auch über ein gemeinsames Sicherheitssystem immer auf dem Laufenden waren.
Schon lange verfolgt die Expertengruppe einen naheliegenden Verdacht: In den gekaperten Bussen könnte sich Heroin befunden haben, das in die USA transportiert werden sollte. Schließlich wird in der Region in großen Stil Schlafmohn für die Herstellung dieser Droge hergestellt. Den Verdacht legen auch abgehörte Gespräche zwischen Iguala und den USA sowie Aussagen nahe, die während eines Drogenverfahrens vor einem Gericht in Chicago getätigt wurden. Dieser Hintergrund würde die brutale Reaktion ebenso erklären wie den Umstand, dass die Sicherheitskräfte nicht reagiert haben. Man wollte die bis in hochrangige politische und miltärische Kreise reichende Struktur des kriminellen geschäfts nicht auffliegen lassen. Der GIEI zufolge hat es einen fünften Bus gegeben, der weder in den offiziellen Ermittlungen noch auf den Videos erscheint. Das Fahrzeug sei von der Bundespolizei begleitet und nicht beschossen worden.
Videoaufnahmen bestätigen zudem, dass 50 der nach dem Verbrechen Verhafteten von Beamten der Sonderstaatsanwaltschaft zur Ermittlungen gegen die organisierte Kriminalität (SEIDO) gefoltert wurden. Damit dürfte der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen gering sein und diese möglicherweise nur dazu gedient haben, die von der Generalstaatsanwaltschaft erfundene „historische Wahrheit“ zu untermauern. Eine weitere Recherche der GIEI weist darauf hin, dass die kriminellen Hintermänner, des Verbrechens weiterhin alles dafür tun, eine Aufklärung der Tat zu verhindern: 22 Personen, darunter Zeugen, Zeuginnen, politische Funktionäre und Menschen, die mit den Guerreros Unidos in Verbindung standen, sind seit dem 26. September 2014 gestorben. Die Mehrheit wurde ermordet.
Die GIEI wurde ins Leben gerufen, da die Angehörigen dem damaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto und seinen Strafverfolgern nicht vertrauten. Doch die Angehörigen sind auch jetzt noch skeptisch, obwohl Peña Nieto Nachfolger López Obrador Druck auf die mutmaßlich beteiligten Behörden ausgeübt hat. Sie befürchten, dass involvierte Kreise in den Behörden die Zeugen töten lassen. Zudem hat es ein Jahr gedauert, bis die Staatsanwaltschaft einen Auslieferungsbefehl gegen den mit Haftbefehl gesuchten damaligen Polizeichef Toms Zerón gestellt hat, der sich in Israel aufhält. Zerón war maßgeblich an den fragwürdigen Ermittlungen der „historischen Wahrheit“ beteiligt. Weitere 42 Haftbefehle gegen Verdächtige seien falsch ausgestellt und damit untauglich gewesen. „Sie nehmen den Präsidenten nicht ernst“, sagte Emilio Navarrete, der Vater von José Angel. „Es macht einen wütend, dass sie die Informationen zurückbehalten haben.“
Für den Leiter des Menschenrechtszentrums ProDH, Santiago Aguirre, verweist das Verhalten des Militärs im Fall Ayotzinapa nicht nur auf die Vergangenheit: „Es zeigt uns eine Armee, die extrem viel Macht hat und weiterhin mit den gleichen Mustern der Undurchsichtigkeit agiert wie schon immer, sich gegenüber zivilen Kontrollsystemen keinerlei Rechenschaft verpflichtet fühlt und weder anerkennt, dass sie in der Vergangenheit schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verübt hat noch, das sie das bis heute tut.“
Es periodista de convicción. Le encanta viajar y aprender de los distintos mundos que encuentra, aunque eso le hace más complicada la vida.
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