Text: Vania Pigeonutt / Amapola Periodismo
Fotos: Isael Rosales
Übersetzung: Wolf-Dieter Vogel
(Mexiko-Stadt, 25. November 2021, Pié de Página).- „Die Kinder erzählen uns, dass sie die Paste aus den Mohnpflanzen holen. Ihre Händchen sind empfindlicher, zarter, deshalb können sie die Kapseln besser aufschlitzen,“ erklärt die Mexikanerin Dulce María Juárez. In den Gemeinden sei es völlig normal, dass die Kinder selbst maricola, also Mohn genannt werden, sagt sie. Die 26-jährige Lehrerin weiß genau, wovon sie spricht. Sie unterrichtet in einer indigenen Naa-Savi-Gemeinde im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero und ist selbst in der Gegend aufgewachsen. Die Region ist eines der größten Drogenanbaugebiete des Landes und Mexiko einer der wichtigsten Opiumproduzenten weltweit. Viele Menschen in den Bergen und der Küstenregion von Guerrero verdienen ihren Lebensunterhalt damit, Opium herzustellen, aus dem vor allem Heroin produziert wird. Eine Alternative haben sie nicht.
„Zahlreiche Familien sagen, dass es keine Hilfen der Regierung gebe, um etwas anderes auf den Feldern zu pflanzen, mit dem man überleben könnte“, sagt Dulce Juárez. Ihnen bleibe gar nichts anderes übrig. „Sie sind zum Drogenanbau gezwungen.“ Als Narcos, wie die Kriminellen der Drogenmafia genannt werden, will die Lehrerin die Bäuer*innen aber nicht bezeichnen. „Die Leute, die von der Opiumernte leben, sind keine Drogenhändler. Sie werden von der Bundesregierung und bundestaatlichen Behörden so genannt, und die schicken dann das Militär oder die Nationalgarde, um die Pflanzen zu zerstören.“
Ja, der Drogenanbau sei illegal, sagt einer. Aber was sollten sie sonst tun?
Immer wieder geht die Armee gegen die bäuerliche Bevölkerung in Guerrero vor. So etwa im März 2018 in der Gemeinde Santa Cruz Yucucani. Doch damals stellten sich 100 bis 150 Frauen, Männer und Kinder den Uniformierten in den Weg. Sie konnten verhindern, dass die Soldaten die Felder abbrennen. Ja, der Drogenanbau sei illegal, sagt einer von ihnen. Aber was sollten sie sonst tun? Viele aus der Gemeinde würden zum Arbeiten in die USA gehen und auf dem Weg von Narcos umgebracht werden. Da sei es doch besser, hier zu bleiben und mit Hilfe des Opiums für ein Auskommen zu sorgen. „Wir wollen Ärzte, Straßen, ein Krankenhaus“, ergänzt eine Frau, die ebenfalls gegen die Soldaten auf die Straße gegangen ist.
Guerrero ist die ärmste Region Mexikos, in manchen Dörfern leben 90 Prozent der Menschen nur von der Hand in den Mund. Mohn anzubauen ist dort so selbstverständlich wie Mais oder Bohnen. Allerdings bringt Opium mehr Geld in die Haushaltskasse. Doch das ist nur ein Grund dafür, Mohn zu pflanzen, erklärt der Ökonom Paul Frissard Martínez: „Die klimatischen Anforderungen sind sehr unterschiedlich. Mais hat einen hohen Wasserbedarf, Schlafmohn ist dagegen wesentlich resistenter gegenüber Trockenheit.“ Das heiße natürlich nicht, dass deshalb alle, die Mais anbauen, zum Opium wechseln. „Aber um zu verstehen, warum sich jemand für Mohn entscheidet, müssen wir auch die Dynamik des legalen Ackerbaus berücksichtigen,“ so Frissard. Und natürlich spiele es eine große Rolle, was wie viel Geld einbringe.
„Als der Opiumpreis fiel, hörten die Bewohner auf, Mohn anzubauen.“
Ein Kilo Mais kann man in Guerrero für 10 Pesos verkaufen, ein Kilo Opium bringt in guten Zeiten mindestens 10.000 Pesos ein. Also 450 Euro anstatt 45 Cent. Doch der Vergleich sagt wenig aus. Auf einem Hektar Land wachsen pro Ernte höchstens 15 Kilo Opium. Und um die klebrige Flüssigkeit aus den Kaspeln zu holen, braucht es viele Arbeitskräfte – oder eben Kinderhände.
Dazu kommen Plagen und die ständige Gefahr, dass Soldaten die Felder zerstören. Zudem sind die Bauern vom Weltmarkt abhängig. Das kann fatale Folgen haben. „Als der Opiumpreis fiel, hörten die Bewohner auf, Mohn anzubauen. Die Ernte brachte nicht einmal mehr die Unkosten ein. Sie haben also Geld verloren. Einige Familien mussten deshalb mitsamt ihren Kindern migrieren“, erinnert sich Lehrerin Dulce Juárez.
Der letzte Einbruch kam vor etwa vier Jahren. Manchmal zahlten die Händler der Mafia nur noch 3.000 Pesos pro Kilo. Einen Grund liefert der Politikwissenschaftler Romain le Cour: „Das Heroin aus Mexiko wird vor allem in den USA und Mexiko konsumiert. Wir haben festgestellt, dass das Auftauchen von Fentanyl als neue Droge den Heroinmarkt sehr durcheinander gebracht hat.“
Fentanyl ist zwar die intensivere Ersatzdroge, die Herstellung aber von globalen Lieferketten abhängig
Viele Süchtige sind auf Fentanyl umgestiegen. Die Droge wird synthetisch im Norden Mexikos hergestellt und hat eine intensivere Wirkung als Heroin. Die mexikanische Mafia bezieht einige der Zutaten aus China, und zwar aus der Region Wuhan, wo das Coronavirus erstmals aufgetaucht ist. Wegen geschlossener Grenzen und stärkerer Kontrollen habe es an Nachschub gemangelt, vermuten Expert*innen. Das könne erklären, warum die Opiumproduktion in Guerrero mit der Pandemie wieder einen Aufschwung erlebt, sagte Romain le Cour im Frühjahr. „Vor einem Jahr war der Preis noch ziemlich im Keller, vor sieben, acht Monaten war er gut, und inzwischen ist er sogar sehr gut“, erklärt der Wissenschaftler. Es gebe aber auch innerhalb von Guerrero große Unterschiede, zwischen 9.000 und 21.000 Pesos pro Kilo.
Angesichts der wirtschaftlichen Probleme, die die Pandemie mit sich bringt, hilft der Drogenanbau den Familien also sehr. Allerdings gebe es verschiedene weitere Gründe für den Marktwert von Opium, betont der Politologe Le Cour, der die Untersuchung „Projekt Amapola“ über den Anbau der Droge in Mexiko geleitet hat: „Die hohe Rentabilität liegt an der Nachfrage und der Illegalität des Produkts. Die Bezahlung steigt mit den Risiken und den Kosten für den Transport. Mit jedem Zwischenhändler multipliziert sich der Preis.“ Die Studie habe gezeigt, dass in der Produktionskette des Heroins die überwiegende Mehrheit des Geldes bei den legalen und illegalen Zwischenhändlern bleibe, und nicht bei den Bäuer*innen. „Die fantastische Ertragskraft des Heroins hat deshalb praktisch keine Auswirkung auf die Ungleichheit. Die Bauern werden weiter diskriminiert und kriminalisiert“, betont Le Cour.
Dennoch versprechen sich manche Familien in Guerrero vom Opiumanbau eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Lehrerin Juárez erzählt: „Wir haben die Grundschule sowie die Mittel- und Oberstufe im Fernunterricht.“ Manche Eltern hofften, sich durch den Anbau die finanzielle Möglichkeit zu schaffen, ihre Kinder in den Provinzstädten Tlapa oder Metepec studieren zu lassen. Doch bisher ist das eine Minderheit, räumt Juárez ein. Die meisten Kinder müssten spätestens nach der Grundschule auf die Felder, damit die Familien überleben könnten. Fürs Lernen sei dann keine Zeit mehr.
Zu diesem Text gibt es auch einen Audiobeitrag bei Radio onda!
Das Projekt Amapola ist eine Kooperation von Noria Research, México Unido contra la Delincuencia (MUCD), el Center for US.-Mexican Studies at the University of California, San Diego (USMEX), Revista Espejo, Pie de Página y Amapola Periodismo
Der spanische Text von Vania Pigenoutt sowie weitere Beiträge des Projektes Amapola stehen auf der Webseite von Pié de Página
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